Marianne Kirchgessner, 1769-1808.

Marianne Kirchgessner gehörte zu den bekanntesten Glasharmonikaspielerinnen ihrer Zeit.[1] Die früh erblindete, europaweit reisende Künstlerin begeisterte ihr Publikum. Als Ausnahme von der Regel steht sie am Anfang von Emanzipation und Aufklärung.[2]

Am 5. Juni 1769 kam Marianne Kirchgessner in Bruchsal auf die Welt.[3] Ihre Eltern musizierten selbst, die Mutter war eine Tochter des fürstbischöflichen Würzburger Kapellmeisters Waßmuth. Im Alter von vier Jahren erkrankte Marianne an schwarzen Blattern und erblindete. Unterstützt durch den Speyerer Domkapitular von Beroldingen erhielt Marianne Unterricht bei einem bedeutendenden Virtuosen der Harmonika, dem Karlsruher Kapellmeister und Komponist Joseph Aloys Schmittbauer.

Ab 1791 ging Kirchgessner in Begleitung des Speyerer Musikverlegers Heinrich Philipp Boßler und dessen Frau in ganz Europa auf Tour. Boßler blieb bis zum Tode Marianne Kirchgessners ihr Konzertveranstalter und Reisebegleiter. Im ersten Jahr reiste sie über Linz nach Wien. Angeregt durch den Besuch eines ihrer Konzerte soll Mozart sein Quintett für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Viola und Violoncello KV 617 für sie komponiert haben, das sie zeitlebens im Programm hatte. Auf ihren Reisen traf sie weitere Musiker und Komponisten wie Clementi, Fasch, Salieri, Naumann, Reichardt, Hoffmeister und Haydn. Ihre Virtuosität erstaunte, da die Glasharmonika bis dahin vor allem als ein Instrument für getragene Musik eingesetzt worden war.[4]

1792 konzertierte Kirchgessner u.a. in Prag, Dresden, Leipzig, Berlin, Hamburg und Magdeburg. Der Publizist und Schriftsteller Christian Friedrich Daniel Schubart berichtete: „Ihr Spiel ist zum Bezaubern schön, es weckt nicht Traurigkeit, sondern sanftes, stilles Wonnegefühl, Ahnungen einer höheren Harmonie, wie sie die guten Seelen in einer schönen Sommermondnacht durchzittern. Unter ihren Fingern reift der Glaston zu seiner vollen, schönen Zeitigung und stirbt so lieblich dahin wie Nachtigallenton, der mitternachts in einer schönen Gegend verhallt.“[5] Von März 1794 bis Herbst 1796 lebte sie als angesehene und erfolgreiche Glasharmonika-Virtuosin in London, wo sie Haydn kennenlernte. Weitere Stationen waren zwischen 1796 und 1800 Hamburg, Kopenhagen, Danzig, Königsberg und Petersburg. 1799 ließ sie sich in der Nähe von Leipzig nieder (Gohlis). Ab 1801 folgten kleinere Konzertreisen, u.a. nach Hannover und Frankfurt/Main, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien und Prag. Station machte sie auch in ihrer Heimatstadt Bruchsal.[6] In ihrem letzten Lebensjahr spielte sie Goethe in Karlsbad auf der Harmonika vor. Ende des Jahres 1808 brach sie zu ihrer letzten Konzertreise in die Schweiz auf. Dort starb sie am 9. Dezember 1808 an einem Brustfieber, das sie sich bei einem Postkutschenunfall in einem Hohlweg zugezogen hatte. Anlässlich ihres Todes komponierte der tschechische Komponist Wenzel Tomaschek die Fantasie für die Harmonika am Grabe der um dieses Instrument so sehr verdienten Dlle Kirchgessner.[7]

Mit ihrem Beruf nahm sie ein anstrengendes, kräftezehrendes Leben auf sich. Mit der untypischen Tätigkeit als professionelle Instrumentalistin war das Weiblichkeits-Ideal um 1800 nicht vereinbar. Frauen wurde eine den Männern gleiche Vernunft abgesprochen, gelehrte oder nach Selbstständigkeit strebende Frauen als Blaustrümpfe verunglimpft.[8] Nur wenige Frauen wurden um diese Jahre berühmt. Kirchgessner mag geholfen haben, dass ihre Behinderung eine Schwäche zeigte, durch die sie nicht als bedrohliche Rivalin erschien. So konnte sie mit männlicher Unterstützung einen Schritt in Richtung Emanzipation und Aufklärung gehen – damals wie eingangs gesagt, als Ausnahme von der Regel.[9]Unter ihren AnhängerInnen finden sich bis heute Menschen mit Behinderungen,[10] deren revolutionäre Geschichte oft vergessen wird.[11]


[1] Anja Herold: Marianne Kirchgessner, in Instrumentalistinnen-Lexikon, Sophie Drinker Institut, 2015, https://www.sophie-drinker-institut.de/kirchgessner-marianne: Oberkapellmeister Naumann, selbst Glasharmonikaspieler war, nannte sie „die größte Harmonikaspielerin der Zeit, welche alle Schwierigkeiten des Instruments auf das glücklichste überwunden habe“.

[2] Melanie Unseld, „Marianne Kirchgessner“, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard, Nina Noeske und Silke Wenzel, HfMT Hamburg, 2003ff. und HfM Weimar, 2022ff. Stand vom 6. März 2018, online verfügbar unter https://mugi.hfmt-hamburg.de/receive/mugi_person_00000423, zuletzt abgerufen am 10. August 2025.Hermann Ullrich: Die blinde Glasharmonikavirtuosin Marianne Kirchgessner und Wien – eine Künstlerin der empfindsamen Zeit, Tutzing 1971. Jörg Holzmann: Kirchgessner Marianne – Leipziger Frauenporträts, 2019. Anlass Symposium des musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Leipzig und des Bürgervereins Gohlis zu Ehren Marianne Kirchgessners 250. Geburtstag am 27.10.2019.

[3] Eintrag im Taufbuch der Hofpfarrei, in: Stefan Schumacher: Marianne Kirchgessner, BNN, 9.6.1999.

[4] Stefan Schumacher: Marianne Kirchgessner, in Badische Heimat, Themenheft Bruchsal, S. 243 ff. Melanie Unseld, „Marianne Kirchgessner“, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard, Nina Noeske und Silke Wenzel, HfMT Hamburg, 2003ff. und HfM Weimar, 2022ff. Stand vom 6. März 2018, online verfügbar unter https://mugi.hfmt-hamburg.de/receive/mugi_person_00000423, zuletzt abgerufen am 15. August 2025

[5] Stuttgarter „Schwäbische Chronik“: Konzertkritik Christian Friedrich Daniel Schubart, 22.2.1792.

[6] Bruchsaler Wochenblatt, Dezember 1801, in. Werner Greder: Frauen gestern und heute-100 Jahre Frauengemeinschaft St. Paul, Bruchsal, 1995.

[7] Bruno Hoffmann: Ein Leben für die Glasharfe, Backnang, 1983, S.21.

[8] Harriet Merrow: Chauvinismus im Schafspelz. Ein Blick auf die Frauen der Aufklärung und wie sie uns bis heute prägen, Deutsches Historisches Museum, Blog, 6.3.2025. Michaela Karl: Die Geschichte der Frauenbewegung, Stuttgart, 2011, S. 17f.

[9] Anja Herold, wie Anm. 1.

[10] Anneliese Mayer: Berühmte behinderte Frauen. Marianne Kirchgessner, in: Zeitung des Projektes „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“, Weibernetz e.V., April 2006

[11] Betroffen – Alle, 20 Jahre Beirat für Menschen mit Behinderungen der Stadt Karlsruhe Schrift zum Jubiläum 2023.

http://frauengeschichte-bruchsal.de/index.php/2025/09/30/automatisch-gespeicherter-entwurf